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Interview: Schwerin “Liechtenstein bringt für Token-Ökonomie besonders gute Voraussetzungen mit”

Interview mit Dr. Joachim Schwerin, Principal Economist bei der Europäischen Kommission

Dr. Joachim Schwerin gibt in diesem Gespräch seine persönlichen Ansichten wieder. Diese stellen nicht notwendigerweise eine offizielle Meinung der Europäischen Kommission dar.

Liechtensteiner Volksblatt (LV): Die Europäische Kommission hat im September 2020 ein Paket zur Digitalisierung des Finanzsektors vorgestellt. Darin wird auch eine EU-weit einheitliche Regulierung von Blockchain-Anwendungen vorgeschlagen. Sieht die Europäische Kommission in der Blockchain-Technologie eine Chance oder eher ein Risiko? Möchte die EU-Kommission mit der Regulierung die Entwicklung der Blockchain in Europa ermöglichen oder eindämmen?

Joachim Schwerin: Wir sehen in der Blockchain-Technologie sehr weitreichende Chancen, sowohl im Finanzsektor als auch in der Realwirtschaft. Diese Einschätzung haben wir bereits vor fünf Jahren in einem Grundsatzbericht vertreten, der die zukünftigen Innovationsprioritäten der EU beschrieb. Dort haben wir die sogenannten Distributed-Ledger-Technologien („DLT“, kurz „Blockchain“) als eine der entscheidenden Zukunftstechnologien hervorgehoben, die bei frühzeitiger Umsetzung und breiter Nutzung Europas globale Wettbewerbsfähigkeit fundamental verbessern wird.

Innovative und umfassende Regulierung, die wir etwa mit dem Entwurf einer Verordnung über Märkte für Kryptowerte (Markets in Crypto Assets/MiCA-Verordnung) und unserem Vorschlag für eine Pilotregelung für Blockchain-Marktinfrastrukturen im September 2020 öffentlich vorgestellt haben, hat sich immer in diesen wirtschaftsfreundlichen und marktliberalen Kontext einzufügen. Sie ist kein Ziel an sich, sondern ein Mittel zum Zweck. Daher ist sie eingebettet in ein breites Spektrum weiterer Politikmaßnahmen, die ganz unterschiedliche Komponenten wie Politikdialog, Projektfinanzierung, Aus- und Weiterbildung, Standardsetzung und die europaweite Identifizierung und Verbreitung guter Ideen und Geschäftsmodelle umfaßt, stets im Dialog mit den Wirtschaftsunternehmen, die die Triebfeder bei diesen Neuerungen sind.

LV: Welches Potential sehen Sie persönlich in der Blockchain? Welche Gefahren müssen adressiert werden?

Joachim Schwerin: Die Blockchain wurde weithin bekannt als die Technologie, die Bitcoin ermöglicht hat. Das eigentliche Potential liegt aber in viel breiteren realwirtschaftlichen Anwendungen, die auf Token basieren. Token sind einklagbare Rechte und Pflichten, die in digitaler Form auf der Blockchain – in Liechtenstein verwenden Sie den umfassenderen Begriff der vertrauenswürdigen Technologien – gespeichert sind. Sie ermöglichen es im Grundsatz jedem, der wirtschaftlich aktiv ist, an der Token-Ökonomie zu partizipieren. Die Token-Ökonomie ist eine sehr umfassende, dezentrale Form des Wirtschaftens, in dem die beiden Marktseiten, also Angebot und Nachfrage, unmittelbar miteinander Kontakt aufnehmen und handeln können; dies sicher, kostengünstig und effizient und im – langfristig realistischen – Extremfall ohne eine Vielzahl von Intermediären wie etwa Banken, Notare oder gar öffentliche Verwaltungen.

Während das Internet es ermöglicht hat, Informationen global und nahezu kostenfrei zu verbreiten, ermöglicht es die Blockchain, Werte in entsprechender Weise sicher zu transferieren zwischen Menschen, die sich weder kennen noch vertrauen. Dies setzt allerdings viele Vorarbeiten voraus, und der Übergang vom heutigen Zustand hin zu dem, was langfristig möglich ist, wird Jahrzehnte in Anspruch nehmen. Entscheidend sind Rechtssicherheit und Verständnis der Technologie, also Bildung. Damit sind wir auch bei den Gefahren. Die Blockchain ist an sich ein ganz einfaches Konzept: Sie ist die digitalisierte Variante von Kassenbüchern („ledger“), die seit alters her Transaktionen auflisten. Sie macht dies transparent, dezentral und fälschungssicher, daher die vielen neuen Vorteile. Weil es sich jedoch um komplexen und ständig weiterentwickelten Computercode handelt, also für die meisten von uns nichts leicht Greifbares, ist es eine Herausforderung sowohl für unser traditionelles Verständnis als auch unsere rechtlichen Strukturen, die Risiken vollständig zu verstehen und hinreichend zu beherrschen. Staat, Wirtschaft und Bürger müssen somit im konstruktiven Dialog miteinander mit den neuen Möglichkeiten „mitwachsen“, was einzig über Bildung sowie proaktives staatliches Handeln und wirtschaftliche Gestaltungskraft geht.

LV: Viele sehen in der Blockchain eine große Gefahr für Geldwäsche und Mißbrauch. Wie sehen Sie dies?

Joachim Schwerin: Ich teile diese Ansicht nicht. Grundsätzlich bieten digitale Zahlungssysteme mehr Sicherheit als nicht-digitale wie zum Beispiel Bargeld, weil Transaktionen potentiell einfacher überwacht und auch reguliert werden können (das heißt übrigens nicht, daß wir nun das Bargeld abschaffen wollen; Bargeld ist und bleibt demokratisches Grundrecht und Kernbestandteil unserer Wirtschaft). Überweisungen in Kryptowährungen sind nicht anonym, und obwohl es Verschleierungstechniken gibt, existieren Möglichkeiten, um Transaktionspartner zu identifizieren. Zudem kann ein stringenter Regulierungsrahmen, wie ihn etwa unsere MiCA-Verordnung eröffnet, Betrugsmöglichkeiten erheblich eindämmen.

Was mich jedoch an vielen Fachdiskussionen zur Bekämpfung von Geldwäsche und Terrorismusfinanzierung stört, ist, daß Risiken von Blockchain und digitalen Transaktionen generell überhöht und Chancen für die Wirtschaft weggewischt werden. Schaut man auf die Fakten, die ja regelmäßig publiziert werden, dann ist der tatsächliche Mißbrauch von blockchainbasierten Systemen sehr gering, und überdies verlaufen viele auf diffusen Anfangsverdachten basierenden Fälle vor Gericht im Sande.

Hilfreich ist eine gemeinsame, realitätsbezogene Analyse von Unternehmen, Dienstleistern, politischen Entscheidungsträgern und Finanzmarktaufsicht, um gemeinsam Risiken zu erkennen, gleichzeitig aber unverhältnismäßige bürokratische Barrieren zu vermeiden. Liechtenstein sehe ich hier gut aufgestellt, wovon ich mich jüngst bei einer Veranstaltung des Blockchain & Innovation Circle der Stabsstelle für Finanzplatzinnovation unter Leitung von Dr. Thomas Dünser überzeugen konnte. Dialog, Respekt vor den gegenseitigen Interessen und Augenmaß, ohne den Datenschutz und die Privatsphäre unnötig zu kompromittieren, sind die beste Standortpolitik.

LV: Liechtenstein hat mit dem Blockchain-Gesetz TVTG eine breite Anwendung der Blockchain in der Gesamtwirtschaft verfolgt. Verfolgt die Europäische Kommission mit den Regulierungsvorschlägen eine ähnliche Stoßrichtung?

Joachim Schwerin: Wir verfolgen eine ähnliche Stoßrichtung nicht nur mit unserem Regulierungsvorschlag, sondern unserer gesamten Maßnahmen zur Unterstützung der Blockchain-Technologie. Betrachtet man unsere MiCA-Verordnung nur oberflächlich und vergleicht sie dann mit dem Liechtensteiner TVTG, so sehen beide sehr unterschiedlich aus. Dies liegt aber keineswegs am Inhalt, sondern ausschließlich an der Form, denn in der EU sind unsere Verordnungen von Struktur und Gliederung her historisch gewachsen, und diese Form ist den Marktteilnehmern vertraut und wurde hier beibehalten.

Es hat mich besonders gefreut, daß wir nach der Veröffentlichung des Entwurfes der MiCA-Verordnung schnell eine Reihe von sehr positiven Wortmeldungen aus Liechtenstein erhalten haben, übrigens auch hochwillkommene Verbesserungsvorschläge. Diese werden in den derzeitigen Diskussionen im Europäischen Parlament und Rat zweifellos Aufmerksamkeit finden. TVTG und MiCA sind komplementär und ergänzen sich hervorragend, und der regelmäßige Gedankenaustausch von EU und Liechtenstein ist Zeichen für die gegenseitige Wertschätzung auf beiden Seiten.

LV: Wurde die Europäische Kommission von Liechtenstein „inspiriert“? Gab es eine Zusammenarbeit oder einen Austausch mit der liechtensteinischen Regierung?

Joachim Schwerin: Liechtenstein hat bei der Nutzbarmachung der Blockchain-Technologie eine Vorreiterrolle eingenommen. Selbstverständlich haben wir das mit großer Aufmerksamkeit verfolgt. Das Verständnis der Erfolgsfaktoren in Liechtenstein war hilfreich für unsere eigene Arbeit. Liechtenstein bringt für das, was wir als die entstehende „Token-Ökonomie“ bezeichnen, besonders gute Voraussetzungen mit. Es ist ein etablierter Finanzplatz, hat gleichzeitig aber eine besonders große Dichte an Industrieunternehmen, ist international eng verflochten mit Wertschöpfungsketten in vielen innovativen Wirtschaftssektoren und verfügt zudem über sehr kurze Wege zwischen Politik, Wirtschaft und Gesellschaft. Das ist eine optimale Kombination insbesondere für die digitale Transformation von Wirtschaft und Industrie, die wir auch in der EU anstreben.

Als Regierungschef Adrian Hasler bereits zu einem frühen Zeitpunkt die Nutzbarmachung der Blockchain-Technologie zu einem Schwerpunkt seiner Tätigkeit erklärte, ergab sich eine fruchtbare Kombination aus günstigen Standortvorteilen und politischer Tatkraft, die international sehr genau registriert und wohlwollend beobachtet wurde. Seit zwei Jahren ist Liechtenstein Mitglied der Europäischen Blockchain-Initiative, die die Europäische Kommission 2018 auf den Weg gebracht hatte. Zudem gab es einen regen Austausch auf Expertenebene, der mich auch immer wieder zu aufschlußreichen Besuchen in Ihr Land geführt hat und weiterhin führen wird. Ich bin mir sicher, daß wir auch in Zukunft gemeinsam an der Umsetzung vieler guter Ideen arbeiten werden.

LV: Die Ankündigung von dem inzwischen in „Diem“ umgetauften Projekt (früher „Libra“) mit Facebook über ein digitales Geld hat relativ hohe Wellen geschlagen. Wird Libra in Zukunft in Europa möglich sein? Wenn ja, wie wird Libra reguliert?

Joachim Schwerin: Solche Projekte werden in Zukunft in Europa möglich sein, sind aber an die Erfüllung klarer Anforderungen geknüpft, die wir im Entwurf der MiCA-Verordnung sehr detailliert dargelegt haben. Aus Gründen der Innovationsförderung schließen wir kein Projekt aus, haben uns jedoch für einen risikobasierten Ansatz entschieden, der risikoarme Projekte gar nicht oder nur begrenzt reguliert, risikoreichere Projekte jedoch einem umfassenden Regelrahmen unterwirft. Zu letzteren gehören die wertreferenzierten Token (oft als globale Stablecoins bezeichnet; Diem ist ein Beispiel), also Kryptowährungen, die eine hohe Wertstabilität aufweisen sollen, damit sie in großem Umfang als Zahlungsmittel eingesetzt werden können. Das wirft neben kryptospezifischen Risiken auch Fragen der Geld- und Wettbewerbspolitik auf und bedarf besonderer Vorsicht.

LV: Wie sehen Sie die Rolle des digitalen Euros?

Joachim Schwerin: Derdigitale – ich würde die Bezeichnung „programmierbare“ vorziehen – Euro ist digitalisierte Version des Euro auf Basis der Blockchain. Er macht Zahlungen programmierbar und somit automatisierbar, was gewaltige Effizienzgewinne für wirtschaftliche Anwendungen ermöglicht. Am 19. Januar 2021 haben die Europäische Kommission und die Europäische Zentralbank in einer gemeinsamen Erklärung mitgeteilt, daß sie die Einführung eines digitalen Euro untersuchen und zeitnah eine Entscheidung treffen werden, ob sie Mitte 2021 mit der Umsetzung dieses Projektes beginnen werden.

Zweierlei muß hier deutlich sein. Erstens ist die Blockchain perfekt geeignet, um Zahlungen in Echtzeit sicher und umfassend durchführen zu können. Verfügt die Wirtschaft über tokenisierte Zahlungsmittel, dann ist dies ein entscheidender Schritt hin zur vollständigen Integration von Wertschöpfungsketten mit den hiermit verbundenen finanziellen Dienstleistungen. Daher sind solche tokenisierten Zahlungsmittel unabdingbar. Zweitens kann es sie in verschiedenster Form geben, und ein digitaler Euro wäre eine Alternative unter mehreren, deren Wettbewerbsfähigkeit sehr von der konkreten Ausgestaltung abhängt. Aus vielen Gründen wäre eine flächendeckende Lösung, wie sie etwa ein digitaler Euro darstellen könnte, hilfreich. Entscheidend für den Durchbruch der Token-Ökonomie ist sie hingegen nicht, da es andere, auch private, Alternativen gibt oder geben wird.

LV: Sie haben im Oktober Liechtenstein besucht. Welchen Eindruck haben Sie von Liechtenstein gewonnen?

Liechtenstein ist aus meiner Sicht Bestandteil eines historisch über lange Zeit gewachsenen Kulturraums und integraler Teil eines modernen Europa, das wir auch mithilfe der Blockchain-Technologie weiterentwickeln wollen. Im Oktober konnte ich mit großer Freude zum wiederholten Male feststellen, daß ich in Liechtenstein viele Mitstreiter habe, die sich diesen Idealen verpflichtet fühlen. Wir haben uns in den letzten Jahren sowohl in der EU als auch in Liechtenstein eine hervorragende Ausgangsposition geschaffen, die uns unseren gemeinsamen wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Zielen näherbringt. Das Liechtensteiner TVTG und die europäische MiCA-Verordnung sind hierbei Meilensteine.

Das ist jedoch kein Grund, uns zufrieden zurückzulehnen, im Gegenteil. Wir müssen auch in Zukunft jeden Tag hart arbeiten, um die Projekte weiterzuentwickeln, die wir gemeinsam begonnen haben; dies zum Nutzen der Wirtschaft, aber auch jedes einzelnen Bürgers und jeder Bürgerin, denn die Blockchain eröffnet beispielsweise viele Möglichkeiten für bessere öffentliche Dienstleistungen auf Gemeindeebene. Gegenwärtig haben wir ein Gelegenheitsfenster, um dank neuer Technologien unsere Werte von Basisdemokratie, einer Wirtschaft mit mannigfaltigen Chancen gerade für kleine und mittelgroße Unternehmen sowie Respekt für Bürgerrechte, Privatsphäre und Datenschutz in praktische Politik umzusetzen, die in Europa und darüber hinaus vorbildhaft wirkt. Mir erscheint dies dringend nötig. Es ist daher großartig, daß uns mit Liechtenstein ein innovativer und entschlossener Partner tatkräftig zur Seite steht.

Interview mit

Dr. Joachim Schwerin

Dr. Joachim Schwerin ist in der Europäischen Kommission verantwortlich für die Politikentwicklung in den Bereichen Token-Ökonomie und Distributed Ledger-Technologien (“Blockchain”) sowie deren Anwendungen in der Realwirtschaft. (Foto: ZVG)